Christine and the Queens – PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE

Synth Pop, VÖ: Juni 2023
Obwohl sich CHRISTINE voll und ganz auf PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE einlässt, fühlt es sich insgesamt nicht so lohnend wie die diamantene Klarheit und Brillanz von Chris oder La Vita Nuova an. Auch wenn etwas von der elektrisierenden Unmittelbarkeit dieser Werke fehlt, gibt es hier eine Menge anspruchsvoller und emotional kraftvoller Musik.

Als Christine and the Queens 2015 zum ersten Mal in der anglophonen Welt auftraten, war der Name ein Pseudonym für Héloïse Letissier: eine französische Künstlerin mit einer außergewöhnlichen Linie in makellos coolem, leicht eingängigem Synthpop im 80er-Jahre-Stil, die über queere Identität nachdachte. Im Jahr 2018 war aus Letissier Chris geworden – der gleichnamige, androgyne Protagonist ihres funkigen zweiten Albums. Dann, letztes Jahr, gab er/sie bekannt, dass er/sie nun sowohl männliche Pronomen als auch einen anderen Spitznamen verwende: Redcar, auch die Titelfigur ihres/seines dritten Albums, „Redcar les Adorables Étoiles“.

Diese Platte, eine nachdenkliche, schlüpfrige, nicht ganz zufriedenstellende Sammlung, gesungen auf Französisch, stieß auf gedämpfte Resonanz. Letissier’s offensichtlich steiniger Weg zur Selbstverwirklichung ist mit seismischer Trauer verstrickt – 2019 starb ihre/seine Mutter – und „PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ ist ein Heulen der Verzweiflung, das in erstaunlich schönen experimentellen Pop sublimiert ist, durchtränkt von warmem, himmlischem Licht, durchbohrt von Stacheln von verwirrtem Schmerz. Auf „Tears can be so soft“ wird der Verlust unverblümt zum Ausdruck gebracht – „I miss my mama at night“ – über einen synkopierten Raindrops-on-the-Roof-Beat und einen winzigen Ausschnitt von Marvin Gaye. 

Auf „Full of Life“ wird ein verzerrtes „Fucking“ über die süßen Streicher von Johann Pachelbel gebrüllt. „True Love“ verpackt Romantik in unausweichliche Trauer („make me forget my mother“), den Klang eines Herzmonitors und statische Aufladungen. Die Brillanz der Platte liegt in einem innovativen Ozean moderner Oper, der Elemente aus Soul, Pop, Trap, R&B, Drum’n’Bass und Musiktheater vereint. Die Anwesenheit des Hip-Hop-Produzenten Mike Dean auf dem Album verleiht dem Album einen Post-Pop-Sound. Ausgedehnt und zutiefst leidenschaftlich gleitet die Musik mühelos in seraphische Klanglandschaften, während Chris über ihre/seine Probleme trällert: eher theatralisch und langsam als bombastisch und ohrenbetäubend. 

Mit ansteckenden, tänzerischen Hooks, die gegen meditative, aber zuweilen eruptive Stimmungsmacher eingetauscht werden, lenkt „PARANOÏA, ANGELS, TRUE LOVE“ die Aufmerksamkeit des Publikums vielleicht mehr auf den lyrischen Inhalt und seine elastische, eindringliche Stimme, aber die Musik selbst verliert nie ihre Bedeutung als Antrieb der Erzählung. Der letzte Track, „Big Eye“, bietet einen großen Beat und Chris‘ engelhaftesten Gesang. „My love is my light“, singt sie/er im Falsett, „My love is my soul.“ An diesem Punkt vereint sie/er sich mit allem, was sie/ihn in den letzten 90 Minuten zu diesem Punkt geführt hat, und erkennt: „I am now your mother/I’ll carry you through the other side.“ 

Das Lied baut sich mit mehr Gesangsharmonien und großen Gitarren auf und sie/er fragt sich a cappella: „Were you saving me from the dark?“ Es ist eine atemberaubende Katharsis, ein Moment der Befreiung. Auch wenn die Texte nicht immer einer Handlung zu entsprechen scheinen, wie es bei einer normalen Oper der Fall wäre, ist es auf emotionaler Ebene eine Belohnung. Chris‘ verlässlich sanfter Gesang ist hier produktiver denn je: gleichzeitig zart, wie ein Finger, der eine Marmorader nachzeichnet, und schrill. Verletzliche Lyrik, die die alles verzehrende Liebe einfängt, ziert die Platte und man zweifelt kein einziges Mal an ihren/seinen Überzeugungen.

8.0