DIE NERVEN WIR WAREN HIER

SEP ● 2024

DIE NERVEN bündeln auf WIR WAREN HIER ihre Geschichte zu einem radikal verdichteten Blick auf Zerfall, Zeit und Selbstverweigerung. Das rohe Covermotiv findet dabei ein klares Echo in einer Musik, die jede Oberfläche aufreißt.

Die Nerven veröffentlichen ihr sechstes Album „WIR WAREN HIER“ in einer Phase, in der ihre eigene Geschichte längst bewiesen hat, wie viel Beharrlichkeit in diesem Trio steckt. Die frühen Jahre in Stuttgart prägten ein Verständnis für Reibung, für stilistische Übergänge zwischen Post Punk, Noise Rock und distanziertem Indie, ein Verständnis für das Ineinander von Kontrollverlust und Präzision. Viele dieser Motive kehren hier zurück, allerdings mit spürbar gereifter Haltung. Die Aufnahmesituation im ehemaligen Sterne Restaurant am Schlossgarten wirkt fast wie ein ironisches Bühnenbild: ein Raum, der bürgerliche Eleganz atmet, geflutet von einer Musik, die diese Oberfläche aufreißt. Die anschließenden Live Sessions im Studio Nord setzen diese Spannung fort, da sich Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn in einer fast hermetischen Konzentration bewegen, ohne ihre spontane Energie zu verlieren.

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Der Einstieg mit „ALS ICH DAVONLIEF“ zeigt sofort, wie eng das Album zwischen Eskapismus und Erkenntnis pendelt. Die Zeile „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit“ bildet keinen romantischen Impuls, sondern beschreibt ein Ausweichen, das sich gegen die eigene Verwundbarkeit richtet. Der wuchtige Bass von Julian Knoth erzeugt eine Schwere, die diese Flucht zugleich blockiert. Das folgende „DAS GLAS ZERBRICHT UND ICH GLEICH MIT“ führt diese Ruhelosigkeit weiter. Die Refrainfrage „Warum hab ich Angst aber du nicht“ entsteht aus einer Verbitterung, die sich weniger an den Mitmenschen abarbeitet als an der eigenen Stasis. Die instrumentale Textur wirkt bedrängend, fast wie ein Strudel, der die Stimme nach unten zieht. Der Titeltrack „WIR WAREN HIER“ stellt den Kern des Albums frei. Während Live Energie und Studio Schichtung aufeinanderprallen, öffnen sich Räume, in denen sowohl Entsetzen als auch eine verzerrte Form von Überlebensdrang spürbar sind. 

Die Erzählung vom Menschen als selbst verordnete Störung der Welt zielt nicht auf moralische Überhöhung, sondern auf ein Erkennen, das ohne Ausweg bleibt. Das Zusammenspiel der drei Musiker erzeugt hier eine flackernde Schichtung aus Lärm und Stille, die an frühere Momente erinnert, allerdings mit deutlich klarerem Bewusstsein für die eigene Ästhetik. Die Mitte des Albums markiert einen Wendepunkt. „ACHTZEHN“, die Ballade mit den Streichern von Friedrich Paravicini, versucht nicht, Wehmut zu verklären. Die Zeile „Nie mehr war ich so voll, nie mehr so leer“ trifft eine ambivalente Beobachtung, die das Album konsequent begleitet. Diese Rückschau zeigt keine nostalgische Wärme, sondern eine Mischung aus Distanz, Reizbarkeit und Verletzung. Auch „WIE MAN ES NENNT“ kreist um diese Spannung. Die zusätzlichen Stimmen von Max Gruber und Stella Sommer verleihen dem Stück eine fragile Weite, die sich nicht von der Düsternis löst.

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Der zweite Teil des Albums verliert stellenweise an Druck. „BIS ANS MEER“ wirkt suchend, ohne wirklich anzukommen, was in seiner thematischen Anlage logisch wäre. Dennoch schwächt diese Unentschlossenheit den zuvor aufgebauten Fokus. „ICH WILL NICHT MEHR FUNKTIONIEREN“ findet anschließend eine klarere Linie. Die Refrainzeile „Ich hab mich nie weniger für eure ganze Scheiße interessiert“ verschärft die Selbstkonfrontation, ohne in reine Pose zu kippen. Der Track legt eine direkte, fast nüchterne Diagnose ab. „SCHRITT FÜR SCHRITT ZURÜCK“ dagegen bleibt in seiner lyrischen Reduktion etwas blass. Die Wiederholung der eigenen Bewegungsunfähigkeit wirkt weniger zwingend als in früheren Stücken der Band. „DISRUPTION“ setzt am Ende ein deutliches Zeichen. Die Zeilen „Schau meine Hände sie zittern, nur Ergebnis meiner Imitation“ führen in ein Crescendo, das eine eruptive Energie freisetzt, ohne in Überwältigung zu erstarren. 

Die abschließende Passage „Freisein ist so ungewohnt“ öffnet einen Moment der Klärung, der durch das vorherige Gewicht allerdings sofort wieder infrage steht. Diese Ambivalenz findet ein visuelles Gegenstück im Albumcover. Der komprimierte Block aus zerknüllten Materialien erinnert an eine Welt, die sich selbst erstickt, an verdichtete Reste einer Zeit, die keine Form mehr findet. Dieses Bild spiegelt sich in Tracks wie „DISRUPTION“ oder „GROSSE TATEN“, in denen Text und Musik gemeinsam nach Ausdruck suchen, ohne klare Lösung. „WIR WAREN HIER“ zeigt eine Band, die ihr eigenes Vokabular kennt und dennoch versucht, es neu zu ordnen. Nicht jeder Song trägt die gleiche Schwere, nicht jede Geste bleibt nachhaltig. Die stärksten Momente entstehen dort, wo der innere Konflikt zwischen Haltung und Überdruss eine erkennbare Reibfläche erzeugt.

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