Wenn Orgeln zu Geistern werden und Trauer sich in Klang verwandelt: ANNA VON HAUSSWOLFF erschafft mit ALL THOUGHTS FLY ein monumentales Werk zwischen Sakralraum und seelischem Abgrund das uns in einen archaischen Dialog aus Verlust Erinnerung und metaphysischer Schönheit zieht.
Anna von Hausswolff hat sich nie mit den Grenzen ihrer eigenen Kunst zufriedengegeben. Seit „Ceremony“ definierte sie den Begriff „Funeral Pop“ neu, verschob ihn von gotischer Theatralik hin zu einer Musik, die sich Raum, Luft und Gravitation selbst erschafft. Mit „All Thoughts Fly“ erreicht diese Suche ihren radikalsten Punkt: ein Album ohne Stimme, getragen allein von einer einzigen Kirchenorgel, eingespielt in der Örgryte New Church in Göteborg. Kein Chor, keine Begleitung, nur das Atmen eines barocken Instruments, das zu sprechen beginnt, sobald der Mensch verstummt. Inspiriert vom Sacro Bosco in Bomarzo, jenem italienischen Garten voller steinerner Monster und Grabesfiguren, verwandelt Hausswolff ihre Trauerarbeit in ein sieben Kapitel langes Ritual zwischen Leben und Nachklang.
„Theatre of Nature“ eröffnet mit einer Bewegung, die zunächst zögert, dann anschwollt, als würde sich das Tor zum Unterbewusstsein langsam öffnen. In „Dolore di Orsini“ kriecht das Licht kaum durch die Pfeifen, während die Melodie an etwas erinnert, das einmal Gebet war. Die monumentale Komposition „Sacro Bosco“ beschwört die Geschichte des Parkgründers Orsini, dessen Schmerz über den Tod seiner Frau zu mythologischer Architektur wurde. Hier klingt die Orgel, als würde sie selbst atmen, knarren, stöhnen – die Mechanik wird zum Körper, der Wind zur Stimme. „Persefone“ führt das Motiv der Unterwelt weiter, formaler, fast feierlich, als Prozession durch die Schatten. Im zwölfminütigen Titelstück verlangsamt sich alles zu einem Zustand der Schwerelosigkeit, in dem Zeit aufhört, Bedeutung zu haben. Wer bis hierher folgt, erlebt ein Werk, das nicht um Verständnis bittet, sondern um Hingabe.
Das Cover zeigt den Eingang des Orcus-Munds, eine düstere Skulptur, die den Betrachter verschlingt. Eine kleine Gestalt steht im Inneren: still, verloren, aber aufrecht. Genau hier setzt das Album an – im Moment des Übergangs, in der Stille nach dem Schrei. Von Hausswolff verwandelt das Monument in Klang, lässt den Stein sprechen, den Atem kreisen, bis aus der Dunkelheit etwas Mildes wächst. „All Thoughts Fly“ ist kein Trost, sondern eine Offenbarung: das Geräusch der Vergänglichkeit, gefiltert durch Metall und Glaube. Wo frühere Alben noch Gesichter trugen, zeigt dieses nur Schatten. Es ist streng, unerbittlich, doch nie kalt. Wer es hört, tritt in eine Kathedrale aus Luft, in der jeder Ton das Gewicht eines Lebens trägt.
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