Zwischen Sci-Fi-Bolero, Sinnesforschung und sanfter Subversion: Wie LUCRECIA DALT auf „¡AY!“ Tropenmusik entkernt, neu verschaltet und als poetische Klangoper über Zeit, Körper und Erinnerung zurück in die Gegenwart holt.
Lucrecia Dalt hat ihre Diskografie immer als Feldforschung verstanden, zuerst entlang geologischer Metaphern, später als beunruhigendes Studienlabor für Stimme, Raum und Bewusstsein. Auf „¡Ay!“ kehrt die in Kolumbien aufgewachsene, in Berlin arbeitende Künstlerin hörbar zu den Klängen ihrer Kindheit zurück: Bolero, Son, Mambo, Merengue. Der Schritt bedeutet keine Nostalgieübung, vielmehr eine Transformation. Dalt komponierte und arrangierte 2021 in Berlin, zog ein kleines Ensemble um sich, ließ Alex Lázaro percussionale Pulsationen setzen, holte Lina Allemano an die Trompete, Edith Steyer an Klarinette und Flöte, Nick Dunston an den Kontrabass, auf „El Galatzó“ zusätzlich Isabel Rößler. Gemischt von Marta Salogni, gemastert von Sarah Register, atmen diese Stücke das Handwerk einer analogen Kammeraufstellung, in die elektronische Tinkturen wie feine Reizpunkte einsickern.
Inhaltlich spannt Dalt – gemeinsam mit Miguel Prado, der auch als Librettist mitwirkt – eine Sci-Fi-Erzählung um die Figur Preta, ein Wesen, das Zeit, Körper, Affekt erst lernen muss. Gerade deshalb verfangen die Lieder sinnlich. „El Galatzó“ ist ein Schlüssel: Becken raunen, Holz bläst warm, ein UFO-Synth schwebt, und Dalt’s Stimme bleibt mic-nah, kontrolliert, fast conspirativ. Sie rezitiert Preta’s Manifest „No obedezco a tu verdad lineal… Despertaré tu narrativa / y alteraré tu paisaje aplanado.“ Das klingt wie Selbstbehauptung gegen koloniale Genre-Schubladen, aber auch wie eine ästhetische Agenda. „Atemporal“ gleitet in eine verrauchte Nachmitternachtsbar, die Bassfigur schlenzt, die Bläser flirren, kleine digitale Störungen zittern durch den Raum, als Erinnerung an Dalt’s vorige, sprödere Platten. „La desmesura“ tänzelt erst mit Agentenfilm-Trompeten, kollabiert dann kontrolliert in industrielles Bröseln.
Das hymnische „Contenida“ öffnet eine Melodie, die in der Albummitte funkelnd strahlt, doch Dalt erlaubt sich das Verschwinden: Hall verschiebt die Achsen, der Raum springt. „Bochinche“ schickt ein beschwingtes Intermezzo, allerdings mit schrägem Augenzwinkern, wenn Preta die eigenen Koordinaten ausruft: „Soy Preta… El desorden es la medida de la calidez.“ Die Produktion sitzt: weiche Transienten, Luft vor den Mikrofonen, präzise Platzierung der Stimmen. Dalt’s Vokaltechnik bleibt bewusst intim, vielfach gehaucht, artikulatorisch exakt, weniger in großer Geste, eher in Miniaturen, die Nähe bauen. Das fasziniert, doch nicht jede Entscheidung trägt über die volle Länge. Manche Nummern verlieren im letzten Drittel Spannung, die Dramaturgie setzt zu stark auf Verdunkelung nach lyrischem Aufblühen, wodurch der Fluss gelegentlich stockt.
Zudem riskieren einzelne Stilzitate – vor allem, wenn Congas und Kontrabass sehr traditionell marschieren – den Anschein eines artifizierten Pastiche, das Dalt erst im Nachklang wieder dekonstruiert. Trotzdem überzeugt die Kohärenz: ein Kreis aus Herkunft und Neuerfindung. Der Blick aufs Cover verstärkt dies. Aina Climent fotografiert eine Figur in Violett, ausgestreckt auf einer meerblauen Fläche, Licht fällt wie Wasseradern. Das Bild passt zum Schwebezustand der Songs, zu Preta’s Lernbewegung zwischen Erdschwere und Astralkälte. Wenn „Epílogo“ mit Kirmesorgeln die Türen halb schließt, bleibt ein Rest Unruhe – sinnvoll, denn „¡Ay!“ erzählt kein Heimkommen, sondern eine laufende Verwandlung. Lucrecia Dalt beweist hier erneut, wie viel Gegenwart in Tradition steckt, sobald man ihr die lineare Wahrheit entzieht.
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