Alaska Reid – Disenchanter

Alben der WocheIndie Rock, VÖ: August 2023
ALASKA REID hat eine Erzählung geschrieben, in der man herumwühlen und in der man sich wiederfinden kann, und in der man sich wie eine Kuscheldecke in den rosaroten LA-Pop-Glanz hüllt.

In „Disenchanter“ schwankt Reid zwischen Weisheit und Naivität und wird im selben Atemzug erwachsen, in dem sie über ihr Leben nachdenkt. Mit Leichtigkeit schlüpft sie zwischen verträumtem Pop, ausuferndem Grunge und folkiger Subtilität hin und her und wählt Elemente aus ihrer musikalischen Palette aus, um ihre Geschichten zu erzählen. Sie wandert von temporeichen, urbanen Stadtlandschaften zu einem leeren Himmel voller Sterne oder einer stillen Naturwelt, sucht an jedem Klangort nach der Erzählung und erschafft Charaktere, die sie bewohnen. „Disenchanter“ ist ein Album, das Ausschnitte aus Autobiografie, Erinnerungen und unterschiedlichen emotionalen Zuständen vereint. Es wirkt wie eine Sammlung von Tagebucheinträgen mit gelebten und imaginären Erlebnissen, die uns in die Schönheit und den Kummer von Reid’s prägenden Jahren eintauchen lassen.

„Back To This“, Reid’s erste Single seit fast zwei Jahren, wurde nach einer Wanderung durch die Absaroka-Beartooth-Wildnis geschrieben, aber auch ohne den Kontext hat man das Gefühl, von ihrem nachdenklichen und beobachtenden Ton in das Lied hineingezogen zu werden. In seiner Leichtigkeit und den funkelnden Synthesizern behält es eine heimelige und atmosphärische Qualität, als wären wir direkt in einen Tagtraum versetzt worden. Reid hat oft mit dem Produzenten A.G. Cook zusammengearbeitet, der auf die Produktion von Caroline Polachek und Charli XCX zurückblicken kann. Die Kunst der ersteren ist viel abstrakter, während Charli’s Musik eher maximalistisch ist. „Disenchanter“ hat eine gesunde Mischung aus beidem – da Reid zuvor beide Künstlerinnen auf Tournee unterstützt hat, scheint es, als hätten sich ihre jeweiligen Stile auf sie übertragen.

Der Eröffnungstitel „French Fries“ versucht, die schwesterliche Bindung aufrechtzuerhalten, räumt aber ein: „Forget for a second that we’ve grown apart now.“ „Leftover“ beginnt mit dem Verzicht auf ihr ortsbezogenes Erbe: „Wash this city from my back.“ Während „Big Bunny“ einige Songs aus der Zeit vor „Alyeska“ enthielt, räumt „Disenchanter“ die Zeitlinie auf und bringt Reid in die Gegenwart. „She Wonders“ ist vielleicht nicht der klanglich symbolträchtigste Titel, aber er vereint die Teile ihrer Punk-Vergangenheit und der Joni MItchell-orientierten Gegenwart. „Palomino“ bietet einen unharmonischen Instrumentalhintergrund mit Schlagzeug und Gitarre über exzentrischen elektronischen Tönen, während Reid über Zweifel in einer Beziehung singt. 

„Arctic Heart“ ist ein weiteres Beispiel für Reid’s Songs, die für ein ruhigeres und melancholisches Musikerlebnis sorgen, mit sich wiederholenden verzerrten Gitarren und hallenden, sanften Gesängen. „Always“ verschiebt den Ton ziemlich abrupt, von der ruhigen Langsamkeit von „Arctic Heart“ zu seinem eigenen optimistischen, schnelleren Beat. Eine elektronische Hintergrundmelodie klingt fast wie ein 8-Bit-Videospiel-Track, überlagert mit einem Trommelschlag und jammernden Gitarrenriffs, während Reid kontrastierende zynische Texte singt. „Seeds“ ist ein weiterer Titel mit wehmütiger Energie, der Reid’s fast flüsternde Stimme über einem ruhigen, gitarrenklimpernden Instrumentalstück zeigt. 

„Airship“ beendet das Album, während Reid darüber singt, dass er „far away from my paved LA teens / Or the fresh water creeks filled with horse piss and elk teeth“ ist und damit die Distanz zur Vergangenheit und zur Jugend voll und ganz anerkennt. „Disenchanter“ ist eine weitere verletzliche und ehrliche Veröffentlichung von Reid, aber es sind die Produktions- und Songwriting-Kunst der Platte, die einen echten Fortschritt in der Musikalität der Künstlerin unterstreichen. Von emotionalen, erdigen Nummern bis hin zu Tracks voller fröhlicher Popmusik ist es Reid gelungen, eine sehr persönliche und dennoch nachvollziehbare Erzählung aufzuzeichnen und gleichzeitig eine umfassendere musikalische Entwicklung fortzusetzen.

9.3