St. Vincent – MASSEDUCTION

Pop, VÖ: Oktober 2017
Künstlerinnen, die für immer weiterleben, sind diejenigen, die sich weiterentwickeln und mit jedem einzelnen Album größer werden und ganze lebendige Welten malen, die die Zeit, in der sie sich befinden, genauso prägen wie darauf reagieren. So absurd wie der aktuelle Zustand der Welt ist MASSEDUCTION eine Lektion in Sachen schwarzen Humor. Dies ist der Moment, in dem ST. VINCENT das sagenumwobene Reich betritt, das den Großen vorbehalten ist.

Annie Clark’s fünftes Album nimmt die Welt des 21. Jahrhunderts als die düstere Tragikomödie auf, die sie ist, und macht sich über ihren Hintergrund lustig. Gleichzeitig greift es auf eine tiefe Ehrlichkeit zurück und schafft einen Raum für die Verrückten und die anderen in einer Welt, die oft versessen darauf sind, die Außenseiter auszulöschen. Wie bei allem, was sie tut, ist die Herangehensweise von „MASSEDUCTION“ an die Verführung selbst alles andere als geradlinig und wird durch eine Linse von lächerlicher Absurdität geschossen. „MASSEDUCTION“ bietet 13 Soundtracks für schlaflose Nächte und Social-Media-Voyeure, Selbstmedikation und langsame Discos. Der glitzernde Eröffnungstrack „Hang on Me“ blüht zu einer gespenstischen 3-Minuten-Hymne auf; das stachelige, glänzend-helle „Pills“ zählt die vielen Tugenden der Pharmazeutika herunter: „Pills to f—, pills to think, pills pills pills for the family.“ 

Der robosexuelle Titeltrack mit seinem stöhnenden, erstickten Refrain – „I can’t turn off what turns me on“ – klingt wie ein zum Leben erwecktes Gemälde von Patrick Nagel; die digitale Zeugenrockoper „Sugarboy“ schwindet und schlängelt sich, während „Saviour“ mit BDSM-Intimität und Rollenspiel-Klischees spielt. Es gibt einen 80er-Neon-meets-Nullerjahre-Existentialismus, wie die schimmernden Gedankenblasen eines Robert Palmer-Backup-Tänzers, der high ist von Synthesizern, Pedal Steel und den gesammelten Werken von Marshall McLuhan. Manchmal drohen diese lyrischen Obsessionen in Richtung Glätte abzugleiten, aber Clark ist viel zu intuitiv und zu menschlich, als dass sie sich dort zu lange aufhalten würde. 

Viele der besten Momente des Albums sind eigentlich die zärtlichsten: das liebliche, elegische „New York“, die ironische Beziehungsautopsie „Young Lover“ oder das schiefe Wiegenlied „Happy Birthday Johnny“. „MASSEDUCTION“ stellt so viele Fragen über Authentizität und das Echte und das Falsche, aber Clark lacht uns aus, während wir darüber nachdenken – als ob es nur zwei binäre Seiten der Authentizität gäbe, als ob wir immer nur eine Person wären. In einem der hyperstilisierten Interviewvideos, die im Vorfeld der Veröffentlichung des Albums auf ihrem Instagram Account gepostet wurden, wird sie gefragt, ob St. Vincent und Annie Clark dieselbe Person sind. “You’d have to ask her,” antwortet sie. Nach fünf Studioalben fühlt es sich damit wie ein weiterer Neuanfang an und kommt einem Meisterwerk ziemlich nahe.

9.2