Zwischen schwebenden Fragen und zerbrechlicher Poesie: Wie ANNA TIVEL mit THE QUESTION ein stilles Meisterwerk zwischen Folk, Beobachtungskunst und existenzieller Dringlichkeit schafft.
Seit Jahren gehört Anna Tivel zu jenen Songwriterinnen, die alltägliche Beobachtungen in feingliedrige Erzählungen verwandeln. Mit „The Question“, ihrem vierten Album, schärft sie diesen Blick noch weiter und rückt Figuren ins Zentrum, die zwischen Unsichtbarkeit und Sehnsucht schweben. Produziert von Shane Leonard, aufgenommen von Brian Joseph, der bereits mit Bon Iver und Sufjan Stevens gearbeitet hat, entsteht ein Werk, das sich durch leise Intensität behauptet. Zehn Songs verdichten das Repertoire der US-amerikanischen Künstlerin, deren Stimme oft mit Lisa Hannigan verglichen wird, dabei jedoch eine eigene, fragile Strahlkraft entwickelt.
Der Titelsong eröffnet das Album mit einem poetischen Blick auf Identität und Projektion: „I knew you by description, the tall tales, the pictures, your short hair and your lipstick, the smell of coming rain.“ In dieser eindringlichen Passage verdichtet sich das, was Tivel ausmacht – die Fähigkeit, aus Details existenzielle Fragen zu formen. Auch das Cover deutet darauf hin: Eine einsame Gestalt hängt kopfüber am Felsen, in einem Himmel, der gleichermaßen Weite wie Bedrohung signalisiert. Es ist ein Bild der Schwebe, das zu den Texten passt, die zwischen Traum, Fremdheit und nahbarer Realität pendeln.
„Fenceline“ verweist mit eindringlicher Bildsprache auf Grenzerfahrungen und den Wunsch nach einem sicheren Zuhause. Streicher und Percussion bauen eine unterschwellige Dringlichkeit auf, während die Zeile „Cause down here at the border, I’m just an animal“ den Schmerz existenzieller Ausgrenzung kristallisiert. In „Shadowland“ flackert ein Simon-&-Garfunkel-Echo auf, doch Tivel verleiht dem Stück eine introspektive Schärfe. „Minneapolis“ wiederum fängt die Brüche einer Beziehung ein, während der Cello-Einsatz die Atmosphäre verdichtet. Die Stärke des Albums liegt im ständigen Wechsel zwischen Beobachtung und Empathie. „Worthless“ und „Anthony“ öffnen Räume voller Verlust und existenzieller Fragilität, „Homeless Child“ macht gesellschaftliche Abgründe hörbar.
Zugleich blitzt in „Two Strangers“ eine fragile Hoffnung auf, wenn urbane Anonymität kurzzeitig zum Ort des Aufeinandertreffens wird: „The city lights, they shine like silver, the city lights, they shine like gold.“ Hier zeigt sich die Dualität, die das gesamte Album durchzieht: Resignation und Aufbruch, Verlust und unerwartete Begegnung. Anna Tivel gelingt mit „The Question“ ein Werk, das durch Zurückhaltung große Wirkung entfaltet. Es ist kein Album, das schnelle Antworten liefert, sondern eines, das den Wert von Unsicherheit und Offenheit feiert – in Songstrukturen, die zwischen Folk-Tradition und subtilen experimentellen Texturen pendeln.
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