Aimee Mann – The Forgotten Arm

Rock, VÖ: Mai 2005
AIMEE MANNs fast einzigartige Hingabe an Themen wie Sucht und Dysfunktion wäre vor etwa drei Alben für die meisten Songwriter zu einer künstlerischen Belastung geworden. Man kann sich heute kaum eine andere Komponistin vorstellen, die die gleichen Motive und emotionalen Töne mit mehr Konsequenz trifft.

Die Aussicht auf ein Aimee-Mann-Konzeptalbum über einen süchtigen Boxer, der aus dem Vietnamkrieg zurückkehrt, ist nicht unbedingt verlockend, aber nach dem mäandrierenden, treibenden „Lost in Space“ ist eine Abwechslung jeglicher Art für die gefeierte, begabte und immer beliebter werdende Künstlerin willkommen. Das muss auch Mann gespürt haben, denn sie hat sich nicht nur einem narrativen Liederzyklus verschrieben, sondern die Platte auch live mit einer neuen Band unter der Leitung von Produzent Joe Henry aufgenommen. Die Ergebnisse sind nicht ganz so unterschiedlich, wie man vielleicht erwarten würde. Musikalisch ist „The Forgotten Arm“ eine bodenständige Version dessen, was die Leute von einer Aimee-Mann-Platte erwarten. 

Joe Henry’s Produktion bietet nicht die multiinstrumentale Laune von Mann’s bekanntestem Werk mit Jon Brion, obwohl es Momente gibt, die kurz an diese Lieder erinnern. Ansonsten handelt es sich um eine geradlinige Rockplatte, die von einer Handvoll Studioprofis live auf Band aufgenommen wurde. Manchmal ist die „Studio-Profi“-Atmosphäre etwas zu duftend – man sehe sich diese „forgotten arm“-Gitarrenmomente an – aber ansonsten leisten diese Leute gute Arbeit und lassen Mann’s Songs glänzen. Und dies ist durch und durch eine Aimee-Mann-Platte. Obwohl sie Songs unter dem Deckmantel zweier unterschiedlicher Charaktere schreibt, ist es ihre lyrische Stimme, die eigentlich spricht. 

Es ist ein echtes Album in dem Sinne, dass seine Summe mehr ist als seine Teile; Wie bei dem Boxkampf, auf den es anspielt, lässt sich seine Wirkung am besten dadurch erleben, dass man mehrere Runden durchhält und am Ende den emotionalen Knockout erträgt. Es gibt nicht genau einen definitiven Song auf „The Forgotten Arm“, keine atemberaubende Brücke, die so herausragt wie „Save Me“ von „Magnolia“, oder einen herausragenden Song, der für das Album als Ganzes spricht wie „How Am I Different?“ aus „Bachelor No. 2“. Dies mindert in keiner Weise die Wirkung und Ausgeglichenheit von Mann’s Songwriting; Wenn überhaupt, vereint es „The Forgotten Arm“ besser als ein zusammenhängendes Werk. Von Lied zu Lied dringt Mann tiefer in den Dschungel des dunklen Herzens von „The Forgotten Arm“ vor.

In seiner 1983 erschienenen Sendung „Lost in the Cosmos“ über die Selbsthilfekultur argumentierte Walker Percy, dass die Moderne in einem Paradox steckt: Unsere Besessenheit von der Selbstanalyse entfremdet uns effektiv voneinander und behindert die wahre Selbsterkenntnis. Dem Unwohlsein entgegenzuwirken erfordert Selbstverleugnung und echtes Mitgefühl für andere. Bei „The Forgotten Arm“ scheint Mann auf eine solche Entdeckung eingegangen zu sein.

7.6