ONEOHTRIX POINT NEVER Tranquilizer

NOV ● 2025

ONEOHTRIX POINT NEVER entfaltet auf TRANQUILIZER eine fiebrige Klangarchäologie, die aus verschwundenen Sample-Archiven schöpft, digitale Geister freilegt, alte Technologien reflektiert und zugleich ein unerwartet emotionales Panorama elektronischer Musik formt.

Der Katalog von Oneohtrix Point Never entstand stets aus funkelnden Resten der Popkultur, aus Fragmenten, die Daniel Lopatin sammelte wie andere Leute Fossilien. „Tranquilizer“ führt diese Obsession weiter, aber mit einer neuen Dringlichkeit. Die Grundlage stammt aus einem fast verlorenen Onlinearchiv von Sample CDs aus den neunziger Jahren, prall gefüllt mit synthetischen Flöten, billigen ROMpler-Streichern, Ambient-Pads, funkelnden Chimes und Geräuschen, die früher als Wegwerfmaterial galten. Als die Dateien vorübergehend aus dem Netz verschwanden, erhielt ihre Fragilität plötzlich ein erzählerisches Gewicht. Lopatin sprach in einem Interview davon, dass „alles die Fähigkeit besitzt interessant zu sein“. „Tranquilizer“ zeigt, wie konsequent er diesen Satz versteht, denn das Album verwandelt Zufallsfunde in hyperdichte, bewegliche Konstruktionen, die ihre Herkunft niemals verschweigen.

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Schon „For Residue“ markiert den Einstieg in ein instabiles Terrain. Windgeräusche, glasige Gitarren, fremdartige Stimmen, ein zitterndes Grundrauschen, das nie völlig zur Ruhe kommt. Diese Unruhe setzt sich in „Bumpy“ fort, das zwischen Klavierflächen und digitalem Stottern pendelt, während „Lifeworld“ sein rhythmisches Gefüge aus klickenden Mini-Loops gewinnt. Die Versprechen klarer Linien lösen sich regelmäßig auf, weil die Übergänge nicht wie bewusste Entscheidungen klingen, sondern wie spontane Risse in einer bröckelnden Oberfläche. Auch der Titeltrack wirkt wie ein Kommunikationsversuch mit diesen Rissen: verstümmelte Stimmen schimmern durch Schichten aus Hall und digitalem Flirren, als wären sie Überbleibsel einer gelöschten Webseite.

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Die Mitte des Albums prägen zwei Gegenpole. „Fear of Symmetry“ erzeugt mit brüchigen Trompetenfetzen und flirrenden Synths eine seltsam körperlose Spannung, „Cherry Blue“ dagegen wirkt beinahe nostalgisch, ohne sich in Sentimentalität zu verlieren. Beide Stücke zeigen, dass Lopatin keine bloße Collage abliefert, sondern feinschichtig komponiert. Dennoch fällt auf, dass manche Miniaturen kaum nachhallen. „Bell Scanner“ verpufft schnell, „Petro“ verliert sich in repetitiven Strukturen, die weder Reibung noch Entwicklung bieten. Kurz vor Schluss erreicht das Album seinen markantesten Kontrast. „Rodl Glide“ beginnt als wässeriger, fast verlangsamter R&B-Entwurf, bis plötzlich eine Lawine aus Technostabs einsetzt, so abrupt, dass sie den gesamten Albumfluss herausfordert. Dieser Moment ist eindrucksvoll, allerdings auch kalkuliert, weil die Kollision von Klangwelten ein überdeutliches Stilmittel bleibt. 

„Waterfalls“ beendet den Zyklus mit einer Mischung aus Jazz-Saxophon, Harpsichord-Arpeggien und New-Age-Elementen, eine Szene voller Überfülle, die leicht ins Kitschige kippt, jedoch durch ihre Offenheit funktioniert. Im Gesamten liest sich „Tranquilizer“ wie ein Kommentar über die Zerbrechlichkeit digitaler Archive. Die Musik ist reich an Texturen, aber selten an Ruhe. Sie sucht nach dem Zauber verschwindender Daten, und manchmal gelingt das auch. Trotzdem entsteht kein geschlossenes Werk, sondern ein wechselhafter, atemloser Fluss, der fasziniert, an einigen Stellen jedoch streut. Die Kraft liegt weniger in messerscharfer Form als in der Art, wie Lopatin Unordnung zulässt und aus ihr Funken gewinnt. Das Cover mit seinen kantigen weißen Strukturen, dem stromblauen Hintergrund und den giftgrünen Spritzern spiegelt diese Energie präzise: Konstruktion prallt auf Chaos, Systematik trifft auf eruptive Farbe. Genau diese Spannung trägt das Album, ohne sie vollständig einzuhegen.

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Abstraktes grafisches Cover mit weißen geometrischen Balken vor einem intensiven blauen Hintergrund, darunter schwarze Fläche mit grellen grünen Farbspritzern.

Oneohtrix Point Never – Tranquilizer

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