DIE NERVEN DIE NERVEN

OCT ● 2022

Wie DIE NERVEN auf ihrem selbstbetitelten Album eine zerrissene Gegenwart vertonen, politische Bilder sezieren, tiefe persönliche Krisen skizzieren und daraus ein wuchtiges Werk formen, das mit ungeschönter Wucht die Frage stellt, wie viel Stillstand und Verfall ein System noch aushält.

Der Blick des schwarzen Schäferhundes, eingefangen vor einem tiefen Dunkel, öffnet eine Welt zwischen Bedrohung, Wachsamkeit und völliger Erschöpfung. Dieses Bild, das die Hülle des fünften Albums von Die Nerven prägt, wirkt wie eine stumme Warnung. Die Esslinger Band, seit 2010 mit wechselnden Schüben aus Post Punk, Noise und unruhigem Indie unterwegs, trägt auf diesem Werk ihre gesamte Geschichte zusammen. Max Rieger, Julian Knoth und Kevin Kuhn kennen die Bruchstellen ihres Sounds, seit Jahren geschärft durch Soloausflüge, Produzentenrollen und parallele Bands. Diese Vielspurigkeit führt auf dem selbstbetitelten Album zu einer Verdichtung, die zunächst beeindruckt, sich jedoch nicht restlos trägt.

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Der Einstieg mit „EUROPA“ entwirft einen Kontinent im Zustand permanenter Selbstbefragung, getragen von den Zeilen „Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie“. In dieser Mischung aus verzweifelter Gewissheit und nüchterner Ernüchterung zeigt sich die Stärke der Band. Die Musiker steuern ihren Klang mit einer Klarheit, die aus jahrelanger Erfahrung entstanden ist. Rieger fasst die Instrumente eng, Kuhn spielt Drums mit einer Souveränität, die keine Effekthascherei braucht, und Knoth lässt seinen Bass mal flirrend, mal schwer atmend durch die Räume ziehen. Trotzdem entstehen Momente, in denen die Wucht der Themen den Songs zeitweise ihr eigenes Tempo aufzwingt, sodass nicht jeder Spannungsbogen vollständig greift.

„ICH STERBE JEDEN TAG IN DEUTSCHLAND“ schichtet eine nüchterne Beobachtung über die andere. Die Zeile „Deutschland muss in Flammen stehn“ brennt sich ein, verliert jedoch durch die überzeichnende Wucht ein wenig von ihrer Schärfe. Die Nerven erreichen hier einen intensiven, aber nicht durchgehend präzisen Zugriff auf politisches Unbehagen. „KEINE BEWEGUNG“ legt innere Blockaden frei, während „ALLES REGULIERT SICH SELBST“ die Frage nach Macht und Ohnmacht in Sprachbildern fasst, die manchmal stärker wirken als ihre musikalische Umgebung. Die Streicher in „EIN INFLUENCER WEINT SICH IN DEN SCHLAF“ tragen eine emotionale Last, die den Track atmosphärisch hebt, doch gelegentlich rutscht die Band in Momente, die eher kommentieren als erzählen.

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Am stärksten wird das Trio, wenn es seine erzählerische Dichte ohne äußere Markierungen entfaltet. „DER ERDE GLEICH“ zeigt diese Qualität mit einer erzählerischen Tiefe, die instrumentale Eskalation und lyrische Minimalistik miteinander verzahnt. Der Song wirkt wie ein langgezogener Atemzug einer Menschheit, die ihre Orientierung verliert. „15 SEKUNDEN“ steigert diesen Zustand, indem die Reizüberflutung des digitalen Zeitalters musikalisch komprimiert wird. Die Wiederholung von „Es ist zu viel“ bildet dabei nicht bloß ein Mantra, sondern eine Bestandsaufnahme. Das Cover mit dem tiefschwarzen Hund fügt sich in diesen Kosmos ein. Der Hund blickt nicht aggressiv, eher tastend, zwischen Alarm und Müdigkeit. 

Diese Uneindeutigkeit taucht in vielen Songs wieder auf und zeigt die eigentliche Stärke der Band: ein Gespür für die Zonen zwischen Klarheit und Überforderung. Allerdings führt genau diese Überladung an Themen und Bildern zu Momenten, in denen die Band mehr gleichzeitig verhandelt, als die Songs tragen können. Mit „EIN TAG“ und „180°“ formt die Band schließlich ein Schlusskapitel, das noch einmal große Räume öffnet. „Der Tod läuft nicht gut auf Instagram“ legt eine lakonische Kälte frei, die lange nachhallt. Der abschließende Klavierton von „180°“ schließt das Album nicht ab. Er lässt eine Schneise offen, die mehr Spuren hinterlässt als Antworten anbietet. 

Die Nerven schaffen ein Werk, das ambitioniert ist, politisch wach und musikalisch gereift. Gleichzeitig verlangen die Songs eine hohe Konzentration, da sie mitunter mehr wollen, als ihre Struktur halten kann. Gerade dieser Widerspruch erzeugt jedoch einen Sog, der das Album über weite Strecken trägt.

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