EOR ist mehr als ein Album. Es ist ein Beweis, dass elektronische Musik nicht nur tanzen, sondern erzählen kann – auf eine Weise, die körperlich und zugleich jenseits des Körpers funktioniert. Es ist ein Soundtrack für Nächte am Wasser, für Gedanken, die nicht enden wollen, für Sehnsüchte, die keine Richtung kennen.
Manchmal braucht es nur einen Song, um eine Welt zu öffnen, in der man alles vergessen kann. QUINQUIS – bürgerlich Émilie Quinquis – hat genau so eine Welt erschaffen. Mit ihrem neuen Album „eor“ (bretonisch für Anker) wirft sie uns nicht einfach einen Rettungsring zu – sie zieht uns in eine Tiefe, die leuchtet, strömt und gleichzeitig völlig losgelöst scheint von allem, was wir über elektronische Musik zu wissen glaubten. Man wird sich mit der Zeit immer mehr in diese Zwischenwelten verlieben – dahin, wo elektronische Sounds nicht nur als kalte Technik daherkommen, sondern als lebendige Wesen. QUINQUIS war dabei immer schon eine, die diese Wesen hörbar machen konnte. Schon ihr letztes Album „SEIM“ (2022) klang wie ein langes Flüstern durch Nebel, durchzogen von mystischen Harmonien und bretonischer Melancholie. Jetzt, drei Jahre später, folgt sie dem Ruf der See erneut – nur mutiger, körperlicher und tiefgründiger.
Das Artwork zu „eor“ wirkt wie eine kinetische Skulptur aus Licht, Schatten und Bewegung. Eine androgyne Silhouette, fast gläsern, steht im Zentrum – um sie herum ein Kreis aus verdoppelten Körpern, die sich in tänzerischen Spiralen um den Kopf winden. Wie Geister, die Erinnerungen in Wellenform tanzen. Rote grafische Linien fügen sich wie Meeresströmungen darum. Es ist ein Bild, das auf den ersten Blick ruhig wirkt, aber unter der Oberfläche brodelt. Und genau das spiegelt auch die Musik: Bewegung in der Stille, Tiefe im Detail. Bereits die erste Single „Inkanuko“, ein Duett mit dem südafrikanischen Künstler Desire Marea, zeigt, wo die Reise hingeht: ein zartes Zusammenspiel von Bretonisch und Zulu, ein Sound wie ein verwehter Kuss aus zwei Welten. Elektronische Texturen ziehen sich wie feines Gewebe durch den Track, getragen von zwei Stimmen, die sich nie ganz berühren, aber umeinander kreisen.
Es ist vermutlich das erste Mal, dass diese beiden Sprachen gemeinsam in einem elektronischen Track erklingen – und es klingt völlig selbstverständlich. Was danach kommt, ist nicht weniger intensiv. „Dec’h“ (bretonisch für gestern) verwandelt Legenden in tanzbare Traumbilder. Die zweite Single arbeitet mit visueller Kraft: Drag Queens als moderne Sirenen, queere Mythologie als Empowerment. Das Musikvideo, inszeniert von Vanessa Le Reste, visualisiert, was QUINQUIS in Töne gießt – Transformation, Befreiung, Schönheit jenseits binärer Normen. Die restlichen Tracks – von „The Tumbling Point“ bis „Morwreg“ – erzählen in elliptischen Wellen von Meerjungfrauen, die sich nach Nähe sehnen, aber auch von Verlust, von queerer Liebe, von Verwandlung. Die walisische Musikerin Cerys Hafana verleiht „Blaz an holen“ (der Geschmack des Salzes) zusätzliche Tiefe – gesungen auf Walisisch.
Und ja, es fühlt sich alles so organisch an, dass man fast vergisst, dass man gerade Sprachen hört, die man vielleicht nie gelernt hat.
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