In der Dissonanz liegt die Kraft, zu verstören, und in der Harmonie, zu gefallen. SARAH DAVACHI taucht tief in die Intervalle zwischen diesen Zuständen ein.
Das neue Album von Sarah Davachi besteht aus einem 90-minütigen Kammerspiel, eingerahmt vom perkussiven Geläute des Glockenspiels der University of Michigan, dem drittschwersten der Welt. Durch körnige, muskulöse und strukturierte Stücke, die von Geige, Bratsche, Cello und einer Reihe von Orgeln, Blechbläsern und Flöten gespalten werden, gräbt sie sich in traurige Klänge, die so lange gehalten werden, dass sie sich direkt durch uns bewegen, tief in unsere Körper einsinken und durch die Zellen, Kapillaren und Venen wieder auszuströmen. Verglichen mit dem letztjährigen „Antiphonals“, dass ein einsames Werk von Davachi war, scheint „Two Sisters“ die Flucht vor den Pestjahren zu feiern, indem es sich auf die begehrte Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Musikern, Ingenieuren und Produzenten einlässt. Wenn die Zahl der Teilnehmer zunimmt, kann die Vision der Künstlerin oft verwässert werden, aber nach mehreren Tracks mit über zehn Minuten scheint es, dass der Fokus der sechzehn Mitverschwörer geschärft war. Es fühlt sich alles sehr persönlich an. Als wäre es das Werk einer einzigartigen Künstlerin.
„Two Sisters“ ruft die gleichen Gefühle von Spiritualität, Mysterium und Größe hervor wie die Musik, von der es so klar geprägt ist, lässt uns aber genug Distanz, um die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Was hat zeitgenössischer Minimalismus mit mittelalterlicher Sakralmusik gemeinsam? Komponisten wie Arvo Pärt haben das rigoros erforscht, aber Davachi’s Interesse gilt genau jenen Aspekten, die oft zugunsten von Perfektion und Schönheit beschönigt werden. Stattdessen friert Davachi ihre Komponenten außerhalb ihrer üblichen Schnörkel und kulturellen Wegweiser ein und versucht, uns in eine Zeit zurückzuversetzen, bevor die Musik abgesondert und aus dem Kleinbürgertum entfernt wurde. „Vanity of Ages“ ist eine Pfeifenorgelaufnahme, die von Davachi selbst aufgeführt wurde und betont die erhabene Unvollkommenheit eines Instruments, das auf natürliche Weise verstimmt wird, während es seine zitternden Töne und Akkorde hält.
Das Tempo ändert sich mit dem Schlussstück „O World and the Clear Song“. Hier zeigt Davachi eine filmische Ader und bricht mit der Tradition der mittelalterlichen und Renaissance-Einflüsse, die ihr immer so gut gedient haben. 2022 wurden viele gute Platten dieser Art veröffentlicht, aber keine hat die Essenz des Genres so erforscht wie Davachi auf „Two Sisters“ – eine Platte, auf der sie neben einer fundierten Vorstellung von religiöser Musik neue Methoden einsetzt. Davachi hat uns lange gezeigt, dass sie Musik schreiben kann, die die Freude an der Stille feiert – jetzt zeigt sie uns, dass sie auch die Angst davor annehmen kann.