Die Welt von RAMMSTEIN ist so perfekt gestaltet – der gotische, opernhafte Schwung ihres Metals liefert Hook um Hook, Endorphin-Schlag um Endorphin-Schlag; die Rillen sind so tief wie Schluchten – lächerlich oder nicht, Langeweile kommt nicht auf, auch wenn man weiß, dass das Ganze eigentlich nur ein Vorwand ist, um all die Flammen und Explosionen wieder auf die Straße zu bringen.
Der Titeltrack ist eine gewaltige Errungenschaft von Kraft und Zurückhaltung, eine unerwartete Meditation über Zeit und Altern, bei der der massige Frontmann Till Lindemann vor einem anschwellenden Hintergrund aus Angst und Drama über die Sterblichkeit nachdenkt und dabei von den Gitarristen Paul Landers und Richard Z. Kruspe, dem Bassisten Oliver Riedel, Schlagzeuger Christoph Schneider und Keyboarder Flake Lorenz begleitet wird. Ähnlich ausgedehnte Epen entfalten sich im gesamten Set, von „Schwarz“ – einer Ode an die Nacht, die von wunderschönem Piano durchwoben ist – bis zu „Meine Tränen“ – einer beunruhigenden Momentaufnahme des Missbrauchs, dass zu dem schweren Thema mit angemessen dramatischer Streicherbegleitung passt. Die ergreifende Theatralik wird durch Headbanger ausgeglichen, die so rau sind, dass man sich sofort lebhaft vorstellen kann, wie Lindemann auf der Bühne die Hölle aus den Knien schlägt, während Flammentürme den Veranstaltungsort niederzubrennen drohen.
Doch die neue Deutsche Härte ist nicht mehr so neu und fährt einem auch nicht mehr in die Glieder. Bei Rammstein geht es schon lange nicht mehr um Innovation, vielmehr ist es das stillschweigende Eingeständnis dieser Schwergewichte mittleren Alters, dass sich selbst ihre unnachahmliche Formel weiterentwickeln muss, um Stagnation zu vermeiden. Und so geht es bei Langlebigkeit um den Marathon, nicht um den Sprint, und das Tempo ist hier der Schlüssel. „Armee Der Tristen“ hätte niemals von jemand anderem stammen können, aber unter dem kolbenpumpenden Riffing und der massiven „Komm mit“-Chorus-Hook gibt es eine gedämpfte Weltmüdigkeit. Der Titeltrack liefert dagegen fünf Minuten mittelschnelle Melancholie, die sich um eine schwach pochende Klavierlinie und Till’s komplexe, nachdenkliche Lyrik dreht. „Dem Ende treiben wir entgegen / Keine Hast, nur vorwärts streben / Am Ufer winkt Unendlichkeit“, klagt er – „Das soll immer weitergehen“.
Manchmal ist es dagegen so schrecklich platt formuliert, dass man fast angewidert mit den Augen rollen muss – die Band, die einen Song über den Wunsch nach einer Frau mit großen Brüsten einleitet, heißt zum Beispiel „Dicke Titten“. Und „Zick Zack“ ist eine anschauliche Beschreibung der plastischen Chirurgie und mit ziemlicher Sicherheit der einzige Rocksong, der die wiedergefundene Sichtbarkeit des Penis eines Mannes nach der Entfernung von sieben Kilo Bauchfett kommentiert. Till Lindemann intoniert wie immer, als verkünde er im Radio verzweifelte Nachrichten. Es gibt wenig Wärme in einem herausragenden und unglaublich kraftvollen „Adieu“. Vollgepackt mit Synthesizern und einem stählernen Klavier, die von neuzeitlichen Nine Inch Nails hätten kommen können, Momenten von plattendickem Industrial und einem kühlen Refrain, der The Sound Of Music subtil untergräbt, ist ein erschreckender Todeswalzer und vielleicht der ultimative Abschied von diesen germanischen Titanen.
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