„I’d run the risk of losing everything/Sell all my things, become nomadic“, singt CLAIRO im Eröffnungstrack ihres dritten Studioalbums CHARM. Die Singer-Songwriterin ist seit Beginn ihrer Karriere so etwas wie eine musikalische Nomadin.
Lebendig wie „Immunity“ aus dem Jahr 2019 und üppig wie „Sling“, unterstreicht das oft jazzige, R&B-angehauchte „Charm“ die Seelenfülle von Clairo’s Stimme. In „Add Up My Love“ zum Beispiel gleitet ihr Gesang mit Leichtigkeit über die huschenden Backbeats des Tracks, während die geschmeidige Gesangsschichtung von „Nomad“ nahtlos mit der Flöte und dem Wurlitzer des Songs verschmilzt. Neben Clairo’s angeborenem Gespür für Melodien ist die Instrumentierung des Albums – mit freundlicher Genehmigung einer Reihe von Session-Musikern, darunter Mitglieder der Brooklyner Funk-Soul-Band Menahan Street Band – seine Geheimwaffe. Unter Marco Benevento’s luxuriösen, mitreißenden Keyboards findet Nick Movshon’s Bass auf „Terrapin“ im spärlichen, jazzigen Beat des Stücks Nischen, zu denen man grooven kann. Gegen Ende des Stücks verschmelzen die Instrumente zu abgehackten, synkopierten Hits, die wie Samples klingen, bleiben dabei aber Clairo’s früher Erfahrung, über Lo-Fi-Beats zu singen, treu.
Wenn das vorherige Album eine minimalistische und sehr sanfte Verbeugung vor dem Folk der 70er war, darunter Schwergewichte wie Joni Mitchell, Linda Ronstadt, Karen Dalton und Carpenters, ist diese Platte ein ausgewachsener Kinderkreuzzug in Richtung Soul und Jazz mit Bläsern, Klavier, Schlagzeug und Orgel. Aufgenommen, wohlgemerkt, größtenteils analog. Die unsichtbare Präsenz von Donna Summer, Aretha Franklin, Nina Simone, Diana Ross und anderen Giganten des sogenannten Motown-Sounds ist in jedem Track hier zu spüren, in jedem Kratzer des Bandes. Dennoch gelang es Claire Cottrill, diese Genres für sich selbst komplett neu zu erschaffen, fast ein neues zu erfinden. Im Vergleich zu „Sling“ sind ihre neuen Klänge dreidimensionaler, satter und unglaublich detailliert geworden. Man kann den Overdrive der Gitarre, die Brüche in Cottrill’s Stimme, die Saitenvibrationen und Dutzende anderer Unvollkommenheiten spüren, als wären sie von einer alten Schallplatte gerissen.
Apropos Seltenheit: Bei Clairo’s Klängen ging es immer um den Klang gefundener Musik und nicht um raffinierte Produktion, egal ob es sich um alte Kassetten aus einem staubigen Dachboden oder eine Plattensammlung Ihrer Großeltern handelt. Übrigens, wenn die Namen ihrer ersten beiden Alben auf ihren Unterarm und ihr Handgelenk tätowiert waren, prangt „Charm“ auf ihren Fingerknöcheln und beschreibt Cottrill’s Haltung perfekt. In der ersten Single „Sexy to Someone“, die von einer Sehnsucht nach Bestätigung erzählt, erreichen ihre rund 10 Jahre kreativer Errungenschaften einen Höhepunkt. „Oh, I need a reason to get out of the house / And it’s just a little thing I can’t live without“, singt sie im erkennbaren Stil ihrer „Diary 001“-Ära über ihre persönliche, autobiografische Flucht. Verspielte und lustige Synthesizer mischen sich perfekt mit „Praise You“-erinnernden Klavierzupfgeräuschen, einer entspannten Atmosphäre eines ländlichen Hinterlandes und einer Slide-Gitarre, einer Flöte und einem Mellotron, das dem Erbe der wahren MVPs der 70er-Jahre-Musik verpflichtet ist.
Es gibt auch unbestreitbare Momente, in denen Clairo auf der pastoralen Natur von „Sling“ aufbaut. Da ist das kristallklare „Glory of the Snow“, der Opener des Albums „Nomad“, wo ihr samtiger Gesang über einem wehmütigen Stahlpedal schwebt, und die zermalmenden Becken des spacigen Psych-Folks „Echo“, der an The Doors erinnert. Aber es ist der zarte Schlusssong „Pier 4“, der als Höhepunkt der Platte dient und das 11-Track-Album wie einen gemütlichen Strickpullover abschließt. In der hymnenartigen Nummer setzt sich Clairo mit ihrer öffentlichkeitswirksamen Persönlichkeit und der Bequemlichkeit eines introvertierten Lebens auseinander. „What’s the cost of being loved?/When close is not close enough?“, sinniert sie über einem anschwellenden Vibraphon. Während wir auf „Charm“ keine Hymnen im Brat-Sommer-Stil finden, ist das Album ein beruhigender Balsam, der einen dezenten Rausch erzeugt, der letztlich genauso wirkungsvoll ist. Clairo beweist, dass das Handwerk von größter Bedeutung ist, und sie ist auf dem besten Weg, eine der am meisten verehrten Songwriterinnen ihrer Generation zu werden.
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