Joan Shelley – Over And Even

Folk, VÖ: September 2015
In der fesselnden Stimme von JOAN SHELLEY liegt eine außergewöhnliche Einsamkeit, eine Stimme, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheint.

Shelley’s wichtigster Mitarbeiter bei diesem dritten Album ist Nathan Salsburg, ein Folklore-Archivar und amerikanischer Erweckungsprediger, der sich mit Vorkriegsstilen auskennt. Er hält die Old-Time-Atmosphäre auf ein Minimum und suggeriert hier eher gewundene Dielen, dort eine flatternde Veranda. Auf dem Titeltrack „Over and Even“ spielt er eine wunderschön resonante Linie, die den Takt wie ein Metronom hält, aber dennoch die langen Noten erblühen und sich auflösen lässt. Andere Lexington-Typen, darunter Daniel Martin Moore, der produziert, und Rachel Grimes, die Klavier spielt, assistieren, und Will Oldham singt kratzige Harmonien bei „Stay on My Shore“. Doch im Grunde scheint die Scheibe wie ein Gespräch zwischen Joan Shelley und Salsburg zu sein, sie nimmt Melodien mit ihrer Stimme auf, er webt kreuz und quer Netze aus instrumentalen Gegenstücken, um ihre Stimme zu brechen. Auf „Over and Even“ kehrt Shelley zu ihren Wurzeln zurück, ohne sich vollständig unter ihnen zu begraben.

„My Only Trouble“ ist ein Duett für geklimperte und gezupfte Akustikgitarren, dazwischen ihre springende und tauchende Stimme, während „Easy Now“ eine Ballade mit großen Akkorden ist, in der beruhigende Klavierlinien hinter geschmeidigen, bluegrassartigen Läufen Unterstützung anbieten. Sogar die vollständig produzierten Nummern, wie das von Orgeln gesäumte und elektrische „Ariadne’s Gone“ oder die von Will Oldham unterstützte Schönheit „Stay on My Shore“, scheinen nur einfache Strukturen zu verkleiden, um sie in vollen Studioglanz zu tauchen. Die Texte folgen ebenfalls, Shelley lässt die Zuhörer herein, wie sie es zuvor nie getan hat – daher der Hauch von Unbehagen, der „Over and Even“ einhüllt. „My Only Trouble“ zum Beispiel ist sinnlich, aber beunruhigt, mit Bekenntnissen der Intimität, die von Besorgnis gejagt werden. Ebenso verrät „Stay on My Shore“ eine menschliche Bedürftigkeit, die Shelley einst vielleicht getrübt oder verhüllt hätte.

Getreu der Volkstradition sind diese Lieder nichts zum Lachen: Obst verrottet, der Winter bricht herein, Freunde zerstreuen sich, Lieben verblassen und der Tod ist ein ständiger Schatten. In „Not Over By Half“ hält die Sängerin einem alternden Freund eine frühe Trauerrede; die Erzählerin von „No More Shelter“, so wird schnell klar, könnte tatsächlich selbst tot sein. „Over and Even“ betritt thematisch kein Neuland, aber Shelley schreibt die Art von zuordenbarer, klarsichtiger Poesie über Landschaften, sowohl physisch als auch emotional, die Joni Mitchell in „Ladies of the Canyon“ zum Leuchten brachte. Das sind Songs für jeden Ort und jede Zeit, heute oder in 50 Jahren. Dies ist ein Album zum erneuten Hören und Weitergeben.

9.0