Hercules & Love Affair – In Amber

Electronic, VÖ: Juni 2022
IN AMBER von HERCULES & LOVE AFFAIR demonstriert eine unerwartete Beherrschung von Dancefloor-angehauchtem, Gothic-Folk-gefärbtem Post-Punk, angetrieben von freimütigen Gefühlen und Menschlichkeit.

“In all honesty, based on [the] initial soundscapes, I did not know this was going to be a Hercules and Love Affair album.” Und von Beginn an ist überdeutlich, was Andy Butler meint. Alles bewegt sich knapp unter 120 BPM, der Mix ist leicht und weiträumig und lässt seinem bescheidenen Bariton viel Raum, um seine Geschichte der Selbstermächtigung zu erzählen. Butler bewegt sich auf der Grenze zwischen Experiment und Neuerfindung und entfernt die üblichen Clubmusik-Insignien des Projekts, um gewichtigere Themen und den dunkleren persönlichen Ausdruck hervorzuheben. Die Single „Grace“ demonstriert den Umfang des Albums im Mikrokosmos – beginnend mit ein wenig der dürren Härte von The National, bevor sie einer flotten Keyboardlinie und einem wunderschönen New Order-artigen Abschnitt mit Hintergrundgesängen der Isländerin Elin Ey Platz macht. Es gibt ein sehr angenehmes Gefühl, das nicht der geraden Linie folgt, von der wir dachten, dass sie es sein könnte. 

Wenn man dann das düstere Thema mit seinem Gerede über die Sterblichkeit und die Auseinandersetzung mit den Fehlern und Misserfolgen des Lebens berücksichtigt, hat man ein reichhaltiges und bewegendes Musikstück. Und als ob das alles nicht genug wäre, zieht die rhythmische Genialität von Ex-Banshee Budgie den Track in eine weitere willkommene Richtung. Hercules & Love Affair waren schon immer ein flexibleres Projekt als die meisten anderen – einziges festes Mitglied war und ist Andy Butler – und das beweist es erneut mit „In Amber“. Vorbei sind die Disco-Beats und poppigen Texte, an ihre Stelle ist etwas Aggressives und Konfrontatives getreten. Doch das Hauptproblem, das diesem Album innewohnt, ist die schwache Komposition – wenige der Ideen sind absolut schlecht, aber sie verdienen nicht ihre Laufzeit. Dissoziation paart düstere Akkorde mit Texten, die eher wörtlich als kunstvoll sind.

Es ist bezeichnend, dass „One“ das Highlight von „In Amber“ ist, da es ziemlich eng mit den Sounds übereinstimmt, die Hercules & Love Affair zuvor gemeistert haben. Ein spröder Bass-Sound markiert ein synkopiertes Muster über House-Drum-Machine-Rhythmen, während eisige Pads der Produktion ein subtil grandioses Gefühl verleihen. Es ist die Art von emotional aufgeladenen, genrebelebenden Klassikern, für die Hercules & Love Affair bekannt geworden sind. Auf „In Amber“ hat Butler vielleicht eine Handvoll weiterer Gipfel und seinen Anteil an Tälern gefunden, aber nur wenige können aus dem Schatten dessen hervortreten, was einst mal war.

6.8